«Die Menschen im Norden Europas sind mutvoll, haben aber nur geringe geistige Fähigkeiten.», meint der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) und folgert in seiner Klimatheorie weiter: «In den heißen Klimaten des Südens stösst man umgekehrt auf einen scharfen beweglichen Geist, der jedoch in einem kleinen Körper steckt, weil die Sonne die Feuchtigkeit herauszieht. Da die Griechen in der gemäßigten Mitte leben, sind sie geeignet für die Herrschaft über alle anderen Völker.»
Diese im antiken Griechenland verbreitete Sichtweise beeinflusst natürlich auch die Arbeitswelt. Die Griechen sind die Herren. Selbst zu arbeiten ist verpönt und gilt als banausisch. Für die Arbeit hält man sich Sklaven.
Die Barbaren aus dem Norden sind wegen ihrem Freiheitsdrang nicht als Sklaven geeignet, die Menschen aus den Ländern der heissen Zonen mit ihrem Untertanengeist dagegen schon. Diese arbeiten auch in den Olivenhainen. Die Klimatheorie der griechischen Philosophen wird jahrhundertelang akzeptiert. Durch den Einfluss des Menschen verändert sich aber die Landschaft und damit auch das Klima. So rutscht die gemässigte Zone nordwärts und mit ihr die Heimat der Herrenklasse.
Rom ist die neue Macht. Auch die Olivenbäume «wandern» mit und werden weiterhin von Sklaven gepflegt. Der römische Staatsmann und Schriftsteller Cato meint in seinem 150 v. Chr. verfassten Werk «De agri cultura» (über den Ackerbau): «Für den Olivenanbau benötigt man Organisationstalent und genügend Sklaven.» Mit seinem Ceterum censeo Carthaginem esse delendam unterstützt er die Kriege gegen Karthago, und so gibt es genügend punische Sklaven.
Nach dem Zerfall des Römischen Reiches wandert die Macht weiter nordwärts und verlässt die gemässigte Zone. Die Olivenbäume können nicht mehr folgen. Was lange unmöglich scheint, wird Tatsache. Die Barbaren übernehmen die Macht. Wie sind diese aber plötzlich zur Herrschaft fähig? Eine mögliche Antwort findet sich in der Fabel „Die Grille und die Ameise“ von Jean de La Fontaine (1621-1695).
In einem Feld sitzt eine Grille und zirpt und singt den lieben langen Tag lang. Es ist Sommer. Nicht weit entfernt läuft eine Ameise emsig hin und her und trägt Futter zusammen. Die Grille fordert die Ameise zum Tanze, diese lehnt ab. Der Winter kommt, die Ameise hat zu essen, die Grille hungert. Und die Moral von der Geschichte: Wer gut leben will, muss vorsorgen.
Die Vorsorge ist es also, welche die Barbaren stärkt und die Welt verändert. Es wird gehortet, gehandelt, spekuliert und industrialisiert. Die heutige kapitalistische Konsumgesellschaft entsteht. Die Macht ist im Norden oder besser bei den westlichen Industriestaaten angekommen. Was ist nun aber mit der Grille? Was macht die Grille? Sie bleibt im Süden bei den Olivenbäumen und dort geht die Fabel so:
In einem Olivenhain sitzt eine Grille und zirpt und singt den lieben langen Tag lang. Es ist Sommer. Nicht weit entfernt läuft eine Ameise emsig hin und her und trägt Futter zusammen. Die Grille fordert die Ameise zum Tanze, diese lehnt ab. Der Winter kommt, die Ameise isst Lebensmittel mit abgelaufenem Verfalldatum, die Grille geniesst frisches Obst und Gemüse. Und die Moral von der Geschichte: Wer immer nur vorsorgt, verpasst das Leben.
Bekannt sind auch die Klimatheorien vom französischen Schriftsteller und Philosophen Montesquieu (1689-1755). Er untermauert seine Theorie mit einem originellen Experiment. Er friert die Zunge eines frisch geschlachteten Hammels ein und beobachtet sie beim Auftauen. Er will herausfinden, wie sich die Temperatur auf den Organismus auswirkt. Und so meint er ähnlich wie die antiken Griechen, dass die Unterschiede der Kulturen klimabedingt sind. Unter den zahlreichen Behauptungen findet sich auch diejenige, dass die Bewohner des Nordens im Gegensatz zu denjenigen des Südens angesichts ihrer unterkühlten Sinnlichkeit durch Alkohol zur Sexualität angestachelt werden müssen. Dies funktioniert auch recht gut, und die Bevölkerung nimmt in den nächsten beiden Jahrhunderten rasant zu und damit verändert sich das Klima immer schneller. Klimawandel wird zum Modewort. Die weitere Entwicklung des Homo sapiens ist ungewiss, aber die Lebensform der heute lebenden Menschen ist von Zeiten mit beständigen Klimazonen geprägt. So leben denn, bezogen auf die La Fontaine-Fabel im Norden vorwiegend die Ameisen und im Süden die Grillen. Die Ameisen schenken der Gegenwart wenig Aufmerksamkeit und leben in stetiger Unruhe in Bezug auf kommende Ereignisse oder grübeln über Vergangenes nach. Das Lebenstempo ist hoch – „Zeit ist Geld“ lautet die Devise.
Ganz anders die Grillen. Sie leben nicht in der präzisen Uhrzeit, sondern in der Ereigniszeit. Das Jetzt, die Gegenwart, das Heute sind wichtig. Das Morgen, das Domani sind noch weit in der Zukunft.