Sehnsucht nach dem Süden

Süden ist eine Haupthimmelsrichtung und zeigt überall auf der Erde zum Südpol, ausgenommen dort. Und schon sind wir also dort, wo es keinen Süden mehr gibt, nämlich am Südpol. Da ist es bitter kalt und da wollte ich auch nicht hin. Also zurück auf Feld eins und zweiter Versuch.

Diesmal versuche ich es mit dem bekannten Merkspruch: «Im Osten geht die Sonne auf, im Süden ist ihr Mittagslauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen.» Schaut man mittags Richtung Sonne, blickt man also gegen Süden und tankt Wärme und Sehnsucht. Soweit so gut! Aber gilt dieser Merkspruch überall auf der Welt? Mit einem Nein konnte man in der Schule punkten. Überall auf der Welt ist der Sonnenaufgang im Osten und der Sonnenuntergang im Westen. Der Rest des Merkspruches gilt aber nur bis zum nördlichen Wendekreis, also etwa bis in den Süden von Marokko, Algerien und Libyen. Dann gehts in die Wüste bzw. in die Tropen, was auf Altgriechisch ja auch Sonnenwendegebiet heisst. In den Tropenländern steht die Sonne zur Mittagszeit je nach Jahreszeit im Norden oder im Süden.

Ab dem südlichen Wendekreis steht dann die Sonne zur Mittagszeit immer im Norden und der Merkspruch lautet in diesen Gefilden: «Im Osten geht die Sonne auf, im Norden ist ihr Mittagslauf, im Westen wird sie untergehen, im Süden ist sie nie zu sehen.» Dieser Spruch gilt für Uruguay, fast ganz Südafrika und für Neuseeland. Jetzt bin ich schon wieder zu weit im Süden. Wobei die Tropen bezüglich Sehnsucht schon noch einiges hergäben. Die nordeuropäische Tropensehnsucht entstand insbesondere während der Kolonialzeit im 19. Jahrhundert. Paul Gauguin und Emil Nolde (s. Bild) waren begeisterte Tropenmaler.

Heute wird diese Klimazone auch grosser Süden oder globaler Süden genannt. Das ist aber nicht der Süden, wo ich mit meinem Beitrag hinwill. Wir produzieren schliesslich kein Kokosöl, sondern Olivenöl.

Ich hab mich also verlaufen und muss mich neu orientieren. Orientierung heisst eigentlich nach Osten schauen, zum Orient. Von dort kommt das Licht. Ex oriente lux. Zuerst bezieht sich dieser Spruch nur auf den Sonnenaufgang, dann auch auf das Christentum und schliesslich auf die ganze menschliche Natur. Angezündet wird das Licht in der sogenannten Achsenzeit. Von 800 bis 200 v. Chr. machen die Menschen in mehreren unabhängigen Kulturräumen gleichzeitig bedeutende philosophische und technische Fortschritte und in diesem „Durchbruch der Achse“, in der Geschichte der Asiaten, Ägypter, Juden, Perser, Griechen, Römer, erblickt das Abendland das Licht der Welt. Es entstehen in der Antike die Grundkategorien, in denen der Mensch noch heute denkt. Das kulturelle Licht ist im europäischen Süden angekommen.

Als Olivenbauer ist mir eine weitere Ankunft im Süden wichtig, nämlich diejenige der Olivenbäume. Die Steineichenwälder weichen nach und nach den Olivenhainen. Jetzt ist alles da. Sonne, Kultur, Olivenbäume und vieles mehr. Nun bin ich da, wo ich hinwollte. Zumindest auf der Landkarte. Auf der Zeittafel fehlen aber noch einige Jahrhunderte.  Der Norden sieht das Sonnenlicht des Südens, vom Rest weiss er wenig bis nichts. Der Süden lockt noch nicht. Eine Südsehnsucht gibt es noch nicht. Schlimmer noch, das kulturelle Licht des Südens droht im Mittelalter wieder zu erlöschen, bis der Umbruch zur Neuzeit den Funken im 15. und 16. Jahrhundert nach Norditalien springen lässt und die Antike in der Renaissance wiedergeboren wird. Künstler und Gelehrte beeinflussen nun mit ihrer innovativen Malerei, Architektur, Literatur und Philosophie auch die Länder nördlich der Alpen. Der Nordländer wird mit Südsehnsucht infiziert. Pilger und Ritter reisten bis anhin nur aus religiösen oder politischen Gründen nach Rom und scherten sich kaum um Kunst, Land und Leute. Nun beginnen sich die Reisemotive aber zusehends zu ändern. Im 17. Jahrhundert kommt die »Grande Tour« in Mode. Auf diesen »Kavaliersreisen« lernt der jugendliche Adelige fremde Länder und Sitten kennen.

Im 18. Jahrhundert machen Kulturschriftsteller  der Aufklärung wie Johann Joachim Winkelmann beste Werbung für den Süden. Mit seinen Schriften im Gepäck reist auch Goethe in den Süden und wird mit den 1816 unter dem Titel «Italienische Reise» veröffentlichten Reisetagebücher der wichtigste Förderer und Influencer der deutschen Italiensehnsucht. Viral geht sein in «Wilhelm Meisters Lehrjahre» stehendes Gedicht: «Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?»

Wenige Jahre später macht die Südsehnsucht erstmals Pause. Für die Bildung der Nationalstaaten und für die Industrialisierung werden deutsche Tugenden wie Fleiss, Disziplin und Gehorsam vor Ort gebraucht. Die Pause endet erst nach dem 2. Weltkrieg. Aber dann gehts so richtig zur Sache oder eben in den Süden und bevorzugt nach Italien. Die wiedererwachte Lebenslust will befriedigt werden. Die Kompassnadel des Glücks zeigt nun definitiv gegen Süden. Filme zeigen die italienischen Küsten von ihrer schönsten Seite. Die Werbung bringt Südslogan um Südslogan: Ein Hauch von Süden – geniess den Süden! – schmeck den Süden! – ja, und hören kann man den Süden auch. Dafür sorgt die Musikindustrie. Hier der Link zu: «Die Caprifischer».

Man träumt sich Richtung Süden. Für eine Reise fehlt jedoch vielen das Geld. Auch sind die Alpen noch nicht durchlöchert und eine Reise mit den schwach motorisierten Autos über die Alpenpässe recht beschwerlich. Aber mit dem Aufschwung steigen Einkommen und die PS der Autos und Alpentunnels erleichtern die Südfahrt beträchtlich. Süden wir kommen! Bald geben sich zahlreiche Nordländer mit einigen Ferientagen pro Jahr im Süden nicht mehr zufrieden. Man liebäugelt mit einem eigenen Haus an der Sonne. Tessin – Gardasee – Toscana und immer südlicher.

Heute gibt es bereits Schweizer, die in Apulien ihr eigenes Olivenöl produzieren…

😉😌😁

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Herzliche Grüsse aus Horgen im Norden

Meinrad